DOKUMENTATION DER KONZERTREIHE UNTERM RADAR 2021 - 2023
PHILHARMONIE BERLIN, KAMMERMUSIKSAAL
PROGRAMM
Jenö Takàcs Sinfonia breve (dem Andenken Joseph Haydns) für Orchester
Jenö Takàcs Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug op. 60
Sandor VeressOrbis tonorum
György LigetiKonzert Romanesk für Orchester
Mario Häring – Klavier
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Jenö Takàcs
Der 1902 in Siegendorf - im damals ungarischen, seit 1921 zu Österreich gehörenden Burgenland - geborene Jenö Gusztáv Takács (1902-2005) war in der ganzen Welt zu Hause und doch immer seinen ungarischen Wurzeln verpflichtet. In Wien als Komponist (Joseph Marx) und Pianist (Paul Weingarten) ausgebildet, pflegte er engen Kontakt zu seinem wichtigsten musikalischen Vorbild Béla Bartók.
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Als junger Pianist unternahm er Tourneen in Europa. Danach hatte er Professuren für Klavier am Konservatorium Kairo und in Manila inne. Er sammelte ägyptische und arabische Volksmusik und erforschte im Auftrag des Berliner Phonogrammarchivs die traditionelle philippinische Musik.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich zog sich Takács ins ungarische Soprón zurück, um dem zu befürchtenden Missbrauch seiner Person und seiner künstlerischen Arbeit durch die NS-Kulturbehörden zu entgehen. In seiner ungarischen Periode 1939 bis 1948 war er u.a. Direktor des Konservatoriums Pécs.
1948, als sich die stalinistische Prägung der Kulturpolitik deutlich abzeichnete, emigrierte er erneut und ließ sich im steirischen Grundlsee nieder, von wo aus er Konzerttourneen in Europa und den USA unternahm. Dort hatte er von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1970 eine Professur für Klavier und Komposition in Ohio inne. Im Alter kehrte er in seinen Geburtsort Siegendorf zurück, der ihn 1962 zum Ehrenbürger ernannte.
Das Concerto für Klavier, Streichorchester und Schlagwerk op. 60 entstand 1947 in Pécs (Überarbeitungen 1956 und 1972) und wurde durch Radio Lausanne 1947 uraufgeführt. In streng klassischer Form disponiert, eröffnet das Concerto eigene Klangwelten. Takács‘ Lehrer Joseph Marx würdigt das Werk 1951 in der Wiener Zeitung: „… Ein vielgereister burgenländischer Ungar, der in Wien studierte, viel in der Welt herumgekommen ist, den Orient kennt und überall Anregung empfing, auch von Versuchen der neuen Musik […]. Stellenweise ein ägyptischer Bartók; herb, absonderlich, exotisch je nach Bedarf; […] Öfter allerhand Feines im Klang […], zarte Impressionismen, dann wieder hochwellige (Ravellige) Glanzpassagen […]. Dazwischen die arabische Trommel mit vielen Motivwiederholungen einer fremden Welt – irrende tiefe Bässe: Illustrationsmusik, als solche bildhaft wirksam […]“
1981 komponierte Takács die Sinfonia breve op. 108. Sie ist dem Andenken Joseph Haydns gewidmet und wurde 1982 im Esterházyschen Schloss Fertöd (Ungarn) uraufgeführt. „Ich benützte Elemente, die Haydn selbst benützt hat oder die wir mit seinem Namen in Zusammenhang bringen. Dazu gehören motivische Verarbeitung, klassische Sonatenform, Kürze und Konzentriertheit, kleine Besetzung des Orchesters, Durchsichtigkeit der Orchestration und so fort.“ (zit. nach KdG*)
* Komponisten der Gegenwart, edition text+kritik 1992ff.

Sandor Veress
Im transsylvanischen Kolozsvár (Klausenburg, heute Cluj/Rumänien) geboren, studierte Sándor Veress (1907-1992) an der Budapester Musikakademie Klavier bei Emanuel Hegyi und Béla Bartók sowie Komposition bei Zoltán Kodály. Zunächst in der Volksmusikforschung tätig, arbeitete er dann drei Jahre als Assistent Bartóks an der Musikakademie. Als Komponist trat er erstmalig mit seinem 1. Streichquartett (1931) in Erscheinung, das 1935 beim IGNM Festival in Prag erfolgreich war.
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1940 kehrte er, trotz voraussehbarer Gefährdungen, von einem längeren Aufenthalt in London nach Budapest zurück, wo er 1943 die Kompositionsklasse als Nachfolger Kodálys übernahm. Sein Bestreben galt der Weiterführung der „Budapester Schule“ in der Tradition von Bartók und Kodály. Zu seinen Schülern zählten György Ligeti, György Kurtág und Lajos Vass.
Jedoch verließ er unter dem Eindruck des Rajk-Prozesses 1949 Ungarn und ging über Stockholm ins Exil. Er ließ sich in der Schweiz nieder. Dort war er als Theorie- und Kompositionslehrer am Konservatorium und später als Professor für Musikethnologie und Komposition an der Universität Bern ein gesuchter Lehrer, u.a. von Heinz Holliger, Urs Peter Schneider und Jürg Wyttenbach. In der Schweiz hochgeachtet und tief verankert, verstand sich Veress jedoch immer als ungarischer Komponist im Exil. Grundlage seines Komponierens sind Melodik und Rhythmik des ungarischen Volksliedes, die der geschulte Kontrapunktiker aufbricht, abwandelt und in neue strukturelle Zusammenhänge stellt.
„Orbis tonorum“ für Kammerorchester wurde nach einem langen Entstehungsprozess 1986 fertiggestellt und gilt als eines der zentralen Spätwerke des Komponisten. Dieses entstand nach einer längeren Schaffenspause, einer „Wendung in die Abgeschiedenheit der Werkstatt“ als Folge der Einsicht in die wachsende Fremdheit zwischen der eigenen Position und den marktführenden Strömungen der neuen Musik (Thomas Gerlich).
Orbis tonorum – die hörbare Welt, in Analogie zum Lehrwerk des Pädagogen und Theologen Johann Amos Comenius, das die sichtbare Welt zum Gegenstand hatte - meint in erster Linie die eigene musikalische Welt, ihre Entwicklung und Wechselbeziehung zu anderen musikalischen Welten. In einem mit unglaublicher handwerklicher Virtuosität dargebotenen Reichtum der Mittel errichtet er ein vielfältiges Beziehungsgefüge, dessen Einzelheiten noch längst nicht erschlossen sind. Der Zyklus wird durch die Sätze Tempi passati (Vergangene Zeiten) und Tempi da venire…? (Künftige Zeiten…?) quasi eingerahmt. Im Morendo-Schluss des letzten
Satzes wird ein Endsituation hörbar – Zeichen eines zunehmenden Geschichtspessimismus des Komponisten?

György Ligeti
György Ligeti (1923-1906) gehörte zu den führenden Komponisten der zeitgenössischen Musik. Er wurde 1923 als Kind jüdischer Ungarn in der Siebenbürgischen Kleinstadt Dicsöszentmárton geboren, die seit 1920 zu Rumänien gehört. Physik durfte der gleichermaßen naturwissenschaftlich wie musikalisch Begabte wegen des numerus clausus für Juden nicht studieren. So begann er am Konservatorium des regionalen Kulturzentrums Cluj (Klausenburg) ein Orgelstudium und widmete sich musiktheoretischen Studien bei Ferenc Farkas.
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Er überstand den Arbeitsdienst bei der ungarischen Armee, Krieg und Verfolgung, seine Mutter überlebte Auschwitz, während sein Vater und sein Bruder der Judenvernichtung zum Opfer fielen.
Nach Abschluss seines Kompositionsstudiums bei Sándor Veress, Pál Járdányi und Ferenc Farkas an der Budapester Musikakademie 1949 war er dort als Lehrer für Musiktheorie tätig. 1956, nach der Niederschlagung des Volksaufstandes floh Ligeti nach Wien und folgte dann einer Einladung an das Elektronische Studio des WDR nach Köln. Als Mitarbeiter der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik lernte er die führenden Komponisten und Theoretiker der Avantgarde kennen und gehörte schon Anfang der 60er Jahre selbst zum Dozentenkreis. Eine internationale Karriere als Komponist und gefragter Dozent auf Kompositionskursen weltweit schloss sich an. 1973 wurde er Professor für Komposition an der Musikhochschule Hamburg, wo er bis zu seinem Tode lebte. Er gilt als Innovator der Klangraumkomposition, die auf mikropolyphon gewobenen Clustern basiert.
Das Concert Românesc für Orchester entstand 1951 in Budapest und basiert auf musikalischem Material, das Ligeti bei Reisen zum Aufzeichnen ungarischer und rumänischer Volksmusik kennenlernte. Es steht, was die Verarbeitung der Volksmusik und die Dramaturgie der Sätze angeht, in bester Bartók-Tradition.
„Diese Orchesterkomposition war eines der ‚Camouflage-Stücke‘, als Ausweichen (1951) vor der aufoktroyierten ‚Sozrel‘-Diktatur. Obwohl einigermaßen konform, entpuppte sich das Stück als ‚political incorrect‘ infolge einiger verbotenen Dissonanzen (z.B. fis innerhalb von B-Dur). Für den heutigen Hörer ist es kaum nachvollziehbar, dass solche milden tonalen Scherze als staatsgefährdend deklariert wurden. Das Rumänische Konzert spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen
Volksmusik (und zur rumänisch-sprachigen Kultur schlechthin) wider. Das Stück wurde sofort verboten und erst viele Jahrzehnte später aufgeführt.“
(Ligeti 6.9.2000)
LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR I
Jenö Takàcs: Sinfonia breve
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR I
Jenö Takàcs: Klavierkonzert
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR I
Sandor Veress: Orbis tonorum
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR I
György Ligeti: Konzert Romanesk
Jürgen Bruns, Dirigent
PROGRAMM
Adam Wesolowski Chants of Angels
Andrzej Panufnik Harmony – Poem für Kammerorchester
Michael Spisak Andante und Allegro
Andrzej Panufnik Konzert für Violine und Streicher
Miloslav Kabelàc 4. Sinfonie in A „Camerata“ op. 36 für Kammerorchester
Hanns Eisler Ernste Gesänge
Günter Papendell – Bariton
Piotr Plawner – Violine
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
Schlesisches Kammerorchester Katowice (Polen)
BIOGRAFIEN

Adam Wesolowski
Adam Wesolowski (*1980) studierte an der Karol Szymanowski Musikakademie in Katowice Komposition und Musiktheorie. Er machte sich einen Namen als Manager renommierter polnischer Musikfestivals und Orchester.
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Als Komponist legte er bisher über 50 Kompositionen und über 100 Arrangements vor. Sie wurden international auf Festivals wie dem Pablo Casals Festival (Frankreich), dem Dvořák-Festival (Tschechien), La Folle Journee de Varsovie und dem Jan Kiepura Festival (Polen), den International Days of Odessa (Ukraine), Classic meets Pop (Deutschland) u.v.a. aufgeführt. Die renommierten polnischen Orchester und Ensembles und internationale Solisten spielten seine Musik in den großen Konzertsälen von Berlin, Wrocław, Warszawa, Krakow und Katowice. Er schrieb Sinfonien, Vokalsinfonik, Solo- und Kammermusik und ist der Autor mehrerer Festival-Fanfaren. Seine Werke wurden auf mehreren CDs sowie den Polnischen Rundfunk und das Polnische Fernsehen aufgezeichnet.

Andrzej Panufnik
Andrzej Panufnik (1914-1991) studierte in Warschau Musiktheorie und Komposition bei Kazimierz Sikorski, in Wien und Paris Orchesterleitung bei Felix Weingartner und Philippe Gaubert. Während der deutschen Besetzung Polens blieb er in Warschau und gab Wohltätigkeits- und Untergrundkonzerte. Nach dem Krieg war Panufnik Dirigent der Krakauer Philharmonie, 1946/47 Direktor der Warschauer Philharmonie und Vizepräsident des Internationalen Musikrates der UNESCO. Trotz der hohen offiziellen Anerkennung verließ Panufnik 1954 aus Protest gegen die wachsende Unfreiheit unter dem Einfluss des Stalinismus Polen und emigrierte nach England. In Polen wurde er daraufhin als „Volksfeind“ aus dem Komponistenverband ausgeschlossen und nicht nur die Aufführung seiner Werke, sondern auch die Erwähnung seines Namens verboten.
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Erst 1977 wurde er auf dem Festival „Warschauer Herbst“ wieder aufgeführt. 1990 besuchte Panufnik anlässlich dieses Festivals seine Heimat zum ersten Mal wieder und dirigierte ein Konzert mit eigenen Werken. Er hatte in England die Linie seiner polnischen Werke fortgeführt, mit Themen und musikalischem Material, die symbolträchtig für das polnische nationale Selbstverständnis sind. Seine eigenwillige Musik trägt in nahezu jedem Werk den Widerspruch zwischen unbedingtem Ausdruckwillen und der strengen Struktur einer aus kleinsten Tongruppen entwickelten oft geometrisch legitimierten Satzanlage aus.
1989 komponierte Panufnik das Stück „Harmony – A Poem for Chamber Orchestra“, „Der Titel Harmonie bezieht sich auf den vertikalen Klang (Harmonie basierend auf 8- und 9-Ton-Skalen), den horizontalen Klang (melodische Linien auf zwei 3-Tonzellen), die ‚harmonische‘ Verwendung der Takte 4/4 und 3/4 und das Gleichgewicht der Orchesterfarbe – die Komposition ist stereophonisch gestaltet, mit Dialogen zwischen Streichern und Holzbläsern, beide Gruppen haben die gleiche Bedeutung.
Der Untertitel Gedicht bezieht sich auf das poetische und emotionale Element. Diese Komposition ist meiner Frau Camilla zur Feier des 25. Hochzeitstages gewidmet – daher das warme und lyrische Klima; alle Instrumente „singen“ im Andante cantabile durch das ganze Werk, wie ein Liebeslied.“*
Das Violinkonzert wurde von Yehudi Menuhin in Auftrag gegeben und von ihm 1972 unter der Leitung des Komponisten in London uraufgeführt
„Als Yehudi Menuhin mich bat, ein Violinkonzert für ihn zu komponieren, dachte ich sofort an seine einzigartigen spirituellen und poetischen Qualitäten und dachte, ich sollte ein Stück schaffen, das diese seltenen Gaben akzentuiert und seine tiefe innere Musikalität nicht durch virtuose Pyrotechnik verdunkelt. Ich behandelte die Geige wie ein singendes Instrument, so dass ich, obwohl ich mich an meine strenge Selbstdisziplin und Klangorganisation hielt, ziemlich lange und ununterbrochene Melodielinien konstruierte. Um den Solopart noch besser auszulegen und immer im Vordergrund zu
halten, sowie um eine bestimmte Farbe und Struktur zu erreichen, entschied ich mich für ein Orchester, das nur aus Streichern besteht.“*
*Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Boosey & Hawkes

Michael Spisak
Michał Spisak (1914-1965), im schlesischen Dąbrowa Górnicza geboren, steht für die große polnische Exil-Community, die eine weit ins 19. Jahrhundert reichende Tradition hat und in enger Verbindung zum Heimatland stand und steht.
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Spisak litt an Kinderlähmung, die ihn lebenslang schwer behinderte. Er studierte in Katowice und Warschau (Kazimierz Sikorski). Ein Stipendium der Schlesischen Musikgesellschaft führte ihn 1937 zum Studium nach Paris zu Nadja Boulanger. Es war ihm zu dem Zeitpunkt nicht klar, dass Frankreich für den Rest seines Lebens seine zweite Heimat werden würde, was erheblichen Einfluss auf die künstlerische Entwicklung des Komponisten hatte, der einen eigenen feinen neoklassischen Stil entwickelte. Im 2.Weltkrieg lebte er zurückgezogen in Voiron/Südfrankreich, eine seiner kreativsten Perioden. Noch vor dem Krieg war Spisak der Gesellschaft junger polnischer Musiker in Paris beigetreten und wurde 1939 deren Vorsitzender. Lebenslang verkehrte er mit polnischen Musikern, engagierte sich nach dem Krieg für die Verbreitung polnischer Musik in Frankreich, organisierte Konzerte, beteiligte sich an Diskussionen über Probleme der polnischen Musikkultur, nicht zuletzt, indem er seinen Landsleuten die Tür öffnete, ihnen in fast jeder Hinsicht Hilfe anbot und in regem Briefkontakt blieb. 1947 wurde er Mitglied des Polnischen Komponistenverbands. Krankheitsbedingt konnte er die letzten Jahre seines Lebens nicht mehr komponieren.
„Eine kleine Geschichte für Violine und Orchester“ nannte Michał Spisak sein Andante und Allegro für Violine und Streichorchester. Es wurde 1954 von Nadja Boulanger für einen Kurs in Auftrag gegeben, den Yehudi Menuhin in Fontainbleau gab. Nadia Boulanger schätzte diese Komposition sehr und dirigierte die Premiere bei einem Konzert zum 50. Jahrestag ihrer Lehrtätigkeit.
Das Werk besteht aus zwei Episoden, dem mysteriösen und teilweise düsteren Andante, dem ein lebhaftes Allegro folgt.

Miloslav Kabelàc
Als Komponist, Dirigent und Pianist war Miloslav Kabeláč (1908-1979) eine der wichtigsten Persönlichkeiten des tschechischen Musiklebens im 20. Jahrhundert. „Nie konnte er künstlerisch frei agieren, komponiert hat er trotzdem…“ (DLF Kultur 2019). Bis heute ist er über die tschechischen Grenzen hinaus weitgehend unbekannt,
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auch aus politischen Gründen: erst waren es die Nationalsozialisten, denn Kabeláč hielt trotz des Drucks der NS-Behörden an der Ehe mit seiner jüdischen Frau fest. Das kostete ihn seine Anstellung beim Rundfunk und brachte ihm das Verbot jeglicher öffentlichen Tätigkeit ein. Unmittelbar nach dem Krieg erhielt er alle seine Ämter zurück und wurde für seine antifaschistische Kantate Weichet nicht! und andere Kompositionen hoch anerkannt. Aber schon 1948 verschwand er bis nach Stalins Tod erneut in der Versenkung, wegen seines „unstatthaften Abweichlertums“ von den dogmatischen Normen der stalinistischen Kulturpolitik. 1958-1962 hatte er eine Professur für Komposition am Prager Konservatorium inne. In den 60er Jahren leitete er die ersten Kurse für konkrete und elektronische Musik in der Tschechoslowakei. Infolge seiner politischen Nonkonformität wurde sein Schaffen nach Ende des Prager Frühlings bis zu seinem Tod im eigenen Land erneut weitgehend ignoriert und totgeschwiegen.
In seinen Werken verquickt Kabeláč traditionelle Verfahren und Materialien wie tschechische Volkslieder und für die Nationalgeschichte bedeutsame Choräle der Hussiten und des Mittelalters auf der einen, elektronische Klänge, die herausgehobene Stellung des Schlagwerkes und zeitgenössische Konstruktionsverfahren auf der anderen Seite.
Die 4. Symphonie in A „Camerata“ für Kammerorchester, entstand in den wenigen glücklichen Jahren seiner Professur in Prag. Sie ist die erste der drei mittleren Sinfonien kammermusikalischen bzw. konzertenten Charakters und eines seiner optimistischen Werke, uraufgeführt 1959 in Prag.

Hanns Eisler
Hanns Eisler (1898-1962), als Jude, Kommunist und Schönberg-Schüler von den Nazis verfolgt, kehrte nach seinem Exil, das ihn „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“ (Brecht) über den halben Erdball geführt und letztlich noch vor den McCarthy Ausschuss in den USA gezerrt hatte, 1948 über Prag und Wien in die DDR zurück.
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Er schrieb Lieder, darunter die Nationalhymne der DDR, Bühnen- und Filmmusiken, Instrumentalmusik, arbeitete wieder mit Brecht zusammen und übernahm eine Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste der DDR. Mit seinen Ideen, auf undogmatische, intelligente Weise ein Musikleben für eine neue Zuhörerschaft zu entwickeln, mit seinem Exilschaffen, seinem Bekenntnis zu seinem Lehrer Arnold Schönberg geriet der „Westemigrant“ Eisler bald in Widerspruch zu den starren Postulaten der Shdanowschen Realismusdoktrin. Um das 1952 fertiggestellte Libretto Johann Faustus entstand eine zermürbende Diskussion über Realismus, Formalismus, die „Pflege der Nationalkultur“. Ein Vorwurf im Neuen Deutschland lautete, Eisler schlage „dem deutschen Nationalgefühl ins Gesicht“. Der Komponist habe „die Einflüsse des heimatlosen Kosmopolitismus noch nicht überwunden“. In einem seiner Briefe an das Zentralkomitee der SED in Berlin, schilderte er seine Situation: „…Musiker, die Werke von mir aufführten oder rezensierten, wurden als Vertreter einer unerwünschten Kunstrichtung behandelt, und ich merkte, dass mir jeder Impuls, Musik zu schreiben abhandengekommen ist, so kam ich in einen Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals erfahren habe.“
Die Ernsten Gesänge von 1962 sind Eislers letzte vollendete Arbeit und gezeichnet von politischer Resignation. „Die Zusammenstellung der Lieder hat mir die größte Mühe gemacht. Es kostete mich ein Jahr, um sieben kleine Stücke in Ordnung zu bringen […] Das ist: Besinnung – Überlegung – Depression – Aufschwung und wieder Besinnung.“ (Hanns Eisler Gespräche mit Hans Bunge). In der für ihn charakteristischen Weise hat Eisler Texte von Hölderlin, Viertel, Leopardi, Richter und Hermlin so gekürzt und montiert, dass sie seine Aussage hervorbringen: „… die Rückerinnerung und der Vorblick auf die Zukunft. Das ist für mich identisch. Herbst ist also der menschliche Herbst – wenn Sie so wollen auch der Herbst der Politik“ (ebd.), die „Jahresdaten [s]einer Traurigkeiten“, „das kaum erträumte Glück: Leben ohne Angst zu haben“ (XX. Parteitag). „Sei Du, Gesang, mein freundlich Asyl“, heißt es bei Hölderlin – die Kunst als einzige wirkliche Heimat?
LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR II
Andrzej Panufnik: Harmony
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR II
Michael Spisak: Andante und Allegro
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR II
Andrzej Panufnik: Violinkonzert
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR II
Hanns Eisler: Ernste Gesänge
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR II
Miloslav Kabelàc: 4. Sinfonie
Jürgen Bruns, Dirigent
PROGRAMM
Arvo Pärt Silouan‘s Song
Alexander Lokschin 5. Sinfonie
Victor Bruns Konzert für Flöte und Englisch Horn, Schlagzeug und Streicher op. 74
Petris Vasks Musica dolorosa
Grigori Frid 3. Sinfonie für Streicher und Pauke
Günter Papendell – Bariton
Jelka Weber – Flöte
Dominik Wollenweber – Englischhorn
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Arvo Pärt
Für den estnischen Komponisten Arvo Pärt, geboren 1935 in Paide, ist letztlich alle Musik religiös. Er studierte von 1958 bis 1963 am Konservatorium in Tallin Komposition bei Heino Eller, einem Pionier der estnischen Nationalmusik. Parallel zum Studium war Pärt, bis 1967, Tonmeister beim estnischen Rundfunk. Danach lebte er als freischaffender Komponist in Tallin.
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Seine Person und sein Schaffen erregten in mehrfacher Hinsicht Anstoß bei den sowjetischen Kulturbehörden: Er schrieb 1960 mit „Nekrolog“ die erste serielle Komposition in Estland, arbeitete mit Clustern und aleatorischen Feldern und gelangte Mitte der 60er Jahre zu einem Konzept der Polystilistik, das vor allem auf Stilzitaten beruhte – alles Verfahren, die die Missbilligung der Wächter des Sozialistischen Realismus hervorriefen. Dazu kam der geistliche Gehalt seiner Musik. Die Stilzitate erwiesen sich für Pärt selbst als Sackgasse: „Es hat keinen Sinn mehr, Musik zu schreiben, wenn man fast nur noch zitiert“ (Pärt 1991, zitiert nach KdG). Er verstummte einige Jahre als Komponist, studierte mittelalterliche Musik und trat Mitte der 70er Jahre mit einem Stil der Schlichtheit und Askese hervor, der sein Schaffen bis heute prägt. „Einfachste Melodiezüge, Skalenausschnitte oft, werden auf weite Strecken […] umrankt von Tönen eines einzigen Dreiklangs, der einen glockenartigen Klang abgibt: ‚Tintinnabuli-Stil‘“ nach dem Lateinischen tintinnabulum für Glöckchen (Gottfried Eberle in KdG).
Im Jahr 1980 emigrierte Arvo Pärt auf Druck der sowjetischen Regierung nach Wien und ging später nach (West)Berlin. 2008 kehrte er ins unabhängige Estland zurück.
Silouan’s Song für Streichorchester entstand 1991 als Auftragswerk für eine Pärt Hommage im Rahmen des Festivals Musik vid Siljan in Rättwik (Schweden) Dem Werk liegt ein Text des russischen Heiligen Mönchs Silouan (1866-1938) zugrunde, der einen Großteil seines Lebens auf dem Berg Athos verbrachte. Auf den ersten der psalmenartigen Texte Silouans nimmt Pärt Bezug: „Meine Seele sehnt sich nach dem Herrn, und unter Tränen suche ich ihn. […]“
Die Musik basiert auf einer einfachen Formel von Skalen und Dreiklängen und folgt dem Rhythmus des Textes in einer für das Psalmodieren typischen unregelmäßigen Periodenbildung.

Alexander Lokschin
Der Dirigent Rudolf Barschai nannte Alexander Lokschin (1920-1987) einen „der größten Komponisten“. Und doch wurde das umfangreiche Werk Lokschins, u.a. 11 Sinfonien, Zeit seines Lebens weitgehend totgeschwiegen, oft wegen der von ihm benutzten nicht konformen Texte.
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Baltisch-jüdischer Herkunft, schaffte Lokschin den Sprung von Nowosibirsk ans Moskauer Konservatorium. Seine Abschlussarbeit wurde wegen der als westlich-dekadent geltenden Texte von Charles Baudelaire nicht zum Examen zugelassen. Nach dem Dienst im 2. Weltkrieg in der Roten Armee kehrte er nach Nowosibirsk zurück. Die Aufführung einer sinfonischen Dichtung durch die nach Nowosibirsk evakuierten Leningrader Philharmoniker ermöglichte ihm doch noch den Abschluss des Studiums in Moskau. Als Pädagoge fiel er erneut in Ungnade und wurde suspendiert, kehrte wieder nach Sibirien zurück und bestritt seinen Unterhalt hauptsächlich mit Filmmusiken. Das – unzutreffende – Gerücht, Lokschin sei ein KGB-Agent gewesen, bewirkte auch noch posthum seine Diskreditierung. Der Sinfonie Nr.5 (1969) dienten die zwischen Zeitkritik und Melancholie pendelnden Sonette Nr. 66 und 73 von William Shakespeare als Textgrundlage. Sonett Nr. 66 gibt einen Spiegel der Zeit: Die Narrheit triumphiert über den Geist, das Gute wird von Bösen versklavt, der Kunst wird durch die Obrigkeit ‚die Zunge abgebunden‘. Auf diese kaum versteckte Kritik an der eigenen Gegenwart folgend wendet sich Lokschin mit dem Sonett Nr. 77 dem Thema Vergänglichkeit zu. Das lyrische Ich sieht sich auf der Herbstseite des Lebens, wo sich die Dinge zur ‚alles verschlingenden‘ Nacht neigen. Einzig für die Liebe lohnt es sich, weiter zu leben. (vgl. Josef Beheimb, lokschin.org)

Victor Bruns
Victor Bruns (1904-1996) Die fürchterliche Willkür unter Stalin verschonte auch die aus dem damals finnischen Ollila (nahe St. Petersburg) stammende Familie Bruns nicht. Verbannung, Lagerhaft und Tod trafen Verwandte; zu den üblichen, konstruierten Vorwürfen - konterrevolutionäre Tätigkeit, trotzkistische Verschwörung - kam bei den in der Sowjetunion lebenden Deutschen noch der Spionageverdacht hinzu. Victor Bruns und seine beiden Brüder, monatelang inhaftiert, kamen mit der Ausweisung aus der Sowjetunion 1938 vergleichsweise glimpflich davon.
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Nach der Ankunft in Deutschland fand der am Leningrader Konservatorium als Fagottist und Komponist ausgebildete Viktor Bruns eine Anstellung als Fagottist an der Volksoper Berlin und komponierte außerdem. Noch in der Endphase des Krieges einberufen, geriet er zum zweiten Mal in sowjetische Gefangenschaft, doch gelang es ihm 1946, nach Berlin zurückzukehren. Er war von 1946 bis 1969 Fagottist der Staatskapelle Berlin. Von dieser Zeit an entstanden die meisten seiner Kompositionen, vor allem Ballettmusik und virtuose Konzertmusik. Das Konzert für Flöte und Englischhorn op. 74 aus dem Jahr 1982 ist voll musikantischer Lebensfreude und unerwarteter Überraschungen. Einer stilistischen Strömung wollte er nicht zugehören. Bruns war weder Mitglied des Komponistenverbandes der DDR noch politisch engagiert, sondern konzentrierte sich ganz auf sein persönlich-musikalisches Umfeld. Seine Stücke wurden häufig aufgeführt, da seine Kompositionen unter seinen Bläserkollegen und Musikerfreunden äußerst beliebt waren: musikalisch und technisch anspruchsvoll, bar jeder politischen Aufgeblasenheit.

Petris Vasks
Der Lette Pēteris Vasks (*1946) gelangte spät zur Komposition. Im Kurland aufgewachsen, studierte er im litauischen Vilnius, da ihn die Rigaer Musikakademie ablehnte, „weil er kein Sowjetmensch“ sei. Er war zunächst als Kontrabassist in Lettland und Litauen tätig, bevor er 1973 mit 37 Jahren das Kompositionsstudium bei Valentīns Utkins in Riga aufnahm. Danach komponierte er und verdiente seinen
Lebensunterhalt als Leiter von Volkstanzkapellen und als Theorielehrer.
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1990/91 beteiligte er sich an der Singenden Revolution in Riga. International wurden seine Werke erst nach der Unabhängigkeit Lettlands bekannt. Pēteris Vasks fühlte sich immer dem jahrhundertelangen Leidensweg des lettischen Volkes verpflichtet, den Traumata von Deportation, Zensur und vielfältigen Behinderungen während der sowjetischen Okkupation, den blutigen Barrikadenkämpfen um die lettische Unabhängigkeit 1990/91 und den darauffolgenden enttäuschten Hoffnungen. „Das Mitleiden mit den Schmerzen der Welt empfinde ich als Ausgangspunkt meines Schaffens.“ (Vasks 1992 in Brixen, zitiert nach KdG). „Seine Musik sieht er als Daseinsspiegel und Gegenwelt zugleich; ihre humane Botschaft zielt auf Trost“ (Lutz Lesle in KdG). Die Musiksprache nahm Einflüsse vor allem der polnischen Avantgarde auf, blieb jedoch einer eher romantischen, gelegentlich tragischen Grundhaltung treu.
Musica dolorosa für Streichorchester (1983) bezeichnet Vasks als sein „tragischstes Opus, in dem es keinen Optimismus, keine Hoffnung gibt, nur Schmerz“. Anlässlich des Todes seiner Schwester komponiert, fließen in dem Werk persönliches Leid und das Leiden an der Situation seines Landes ineinander. Das Werk schlägt einen Bogen vom ruhig melancholischen Fluss der fünfstimmigen Einleitung, über eine Steigerung, welche die Stimmen bis zur Elfstimmigkeit auseinandertreibt und nach einem expressiv-dramatischen Fortissimo das gemeinsame Metrum verlieren lässt. Nur scheinbar findet alles in die geregelten Bahnen von Fünfstimmigkeit und gemeinsamem Metrum zurück. Das Stück endet in einer Ansammlung von Tönen, die den Eindruck einer dringenden, aber doch unlösbaren Sehnsucht hinterlassen. (Annika Forkert)

Grigori Frid
Die Familie des in St. Petersburg geborenen Grigori Frid (1915-2012) war wegen des Bürgerkrieges immer wieder auf der Flucht und folgte dem Vater 1927 nach Sibirien in die Verbannung, viele Angehörige kamen unter Stalin ums Leben. In Moskau beendete Frid sein in Irkutsk begonnenes Musikstudium am Konservatorium, unterrichtete dort Musiktheorie und Komposition, arbeitete als Komponist beim Rundfunk und war im Krieg Sanitäter an der Front.
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Seit seiner Gründung 1965 organisierte und leitete er den Moskauer Jugend-Musik-Klub, in dem auch Werke von Gubaidulina, Schnittke und Denissow gehört werden konnten. Er lebte und komponierte zeitlebens in Moskau.
Die kompakte Sprache seiner 3.Sinfonie (1964) changiert zwischen düsteren Landschaften und schicksalshaften, die Elegie des Lebens besingenden langsamen Sätzen. Vitale Auflehnung und kraftvolles Wissen um den eigenen unverbrüchlichen Weg mit mechanischen Rhythmen im Allegro energico wechseln zu
kammermusikalischen Passagen, kunstvoll in diese in so vielfältigen Grautönen erklingende Musik verwoben - in einen mit sich selbst geführten Monolog vertieft.
LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR III
Arvo Pärt: Harmony
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR III
Alexander Lokschin: 5. Sinfonie
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR III
Victor Bruns: Konzert für Flöte und Englisch Horn, Schlagzeug und Streicher op. 74
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR III
Petris Vasks: Musica dolorosa
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR III
Grigori Frid: 3. Sinfonie für Streicher und Pauke
Jürgen Bruns, Dirigent
PROGRAMM
Valentin SilvestrovStille Musik 2002
Krzysztof MeyerCanti Amadei op. 63
Concerto da camera für Violoncello und Kammerorchester
Nikolaj A. RoslawezSymphonie de chambre 1935
Bartosz Koziak – Violoncello
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Valentin Silvestrov
Valentin Silvestrov (*1937) Er wollte seine Heimatstadt Kiew nie verlassen, doch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine blieb dem heute 85-jährige Valentin Vasilevich Silvestrov nur die Flucht. Zusammen mit seiner Tochter, der Enkelin und mit einem Koffer voller Manuskripte verließ er seine Geburtsstadt und lebt nun in Berlin.
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Als wohl bekanntestem ukrainischen Komponisten wird ihm aktuell weltweit so viel Aufmerksamkeit zuteil wie wohl nie zuvor. Er arbeitet unermüdlich weiter und reflektiert mit leisen Tönen das aktuelle Geschehen.
Seine Entwicklung verlief alles andere als geradlinig. Erst spät, im Alter von 15 Jahren, fand er zur Musik, mit 21 Jahren brach er ein Ingenieurstudium ab, um am Kiewer Konservatorium Komposition zu studieren. Zusammen mit anderen Studenten erarbeitete er sich die Dodekaphonie anhand von Hans Jelineks „Anleitung zur Zwölftonkomposition“ im Selbststudium und erprobte sie 1963 in seiner 1. Sinfonie. Er spielte das Werk beim Staatsexamen für Komposition vor und erhielt kein Diplom, weil Zwölftonmusik den Prinzipien des „Sozialistischen Realismus“ zuwiderlief. In den 60er Jahren galt er als einer der führenden Vertreter der „Kiewer Avantgarde“, seine Werke wurden in der Ukraine nicht gespielt und er wurde 1970 aus dem Komponistenverband der UdSSR ausgeschlossen. 1973 erfolgte die Wiederaufnahme, weil er inzwischen eine stilistische Wende hin zu einer „Meta-Musik“ (metaphysische Musik), einem der westlichen „Postmoderne“ ähnlichen Stil vollzogen hatte, der als weniger subversiv eingeschätzt wurde. Seiner individuellen Variante der „Neo-Romantik“ liegt ein feinfühliges, von ihm selbst einmal Pantheismus genanntes Verhältnis zur Natur und ihrer ewigen Veränderung zugrunde - „Verschmelzung unterschiedlicher Stile als Erinnerung an Traditionen, in denen die Moderne ihre Spuren hinterlassen hat“. (Dorothea Redepennig)* Inzwischen freischaffend tätig, verbesserte sich Silvestrovs Status als Komponist. 1989 wurde er zum „Volkskünstler der Ukrainischen SSR“ ernannt, die Zahl der Aufführungen in der Sowjetunion und im westlichen Ausland nahm zu. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde er mit angesehenen Kunst- und Staatspreisen der Ukraine geehrt.
Silvestrov gilt als Komponist der leisen Töne. „Je lauter die Welt vor sich hindröhnt, desto behutsamer ist die Musik, die er schreibt.“ (Kirstin Amme)** Seine Stille Musik
für Streichorchester (2002) lässt dies schon in den metaphorischen Satzbezeichnungen ihrer drei Sätze erkennen: 1. Walzer des Augenblicks, 2. Abendserenade, 3. Augenblicke der Serenade. „Das behutsame Verhältnis zu jedem einzelnen Ton, jeder Tonverbindung, die Durchsichtigkeit und sorgfältige Kontrolliertheit des Satzes, die Tatsache, dass den Pausen eine wichtige Ausdrucksfunktion zugeordnet wird, sowie die wahrhaft magische Rolle der Wiederholungen – all dies sind Gestaltungsweisen, die durch die meditative Denkweise [des Komponisten] bedingt werden. (Marina Nestjewa)***
* Komponisten der Gegenwart, edition text+kritik 1992ff.
** BR Klassik 28.09. 2022
*** in: Hannelore Gerlach Fünfzig sowjetische Komponisten, Leipzig/Dresden 1984

Krzysztof Meyer
Krzysztof Meyer profitierte als Student bereits von dem liberaleren Umgang mit avantgardistischen Strömungen und internationalem Austausch in Polen nach Stalins Tod. Ab 1962 studierte er an der Krakówer Musikhochschule (jetzt Musikakademie) Komposition bei Stanisław Wiechowicz, nach dessen Tod bei Krzysztof Penderecki und arbeitete mehrfach bei Nadia Boulanger in Paris und bei Witold Lutosławski in Warschau.
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Seine Anfänge als Komponist zeigen ihn als jüngsten Vertreter der avantgardistischen „Polnischen Schule“ und ihrer charakteristischen Suche nach dem neuen Klang. Als Pianist wirkte er im Krakówer Ensemble für zeitgenössische Musik „MW-2“, das europaweit auftrat. Seit 1966 lehrte er musiktheoretische Fächer an der Musikakademie seiner Heimatstadt, war zeitweise Prorektor und hatte von 1975-1987 den Lehrstuhl für Musiktheorie inne. Von 1985 bis 1989 war er Vorsitzender des Polnischen Komponistenverbandes. Meyer lebt seit 1987 in Deutschland, wo er von 1987 bis 2008 als gesuchter Lehrer eine Kompositionsklasse an der Staatlichen Hochschule für Musik Köln leitete. Trotzdem versteht er sich als polnischer Komponist und Europäer, für den der Wohnsitz nicht entscheidend ist, wohl aber ein kritisch waches Interesse an den Entwicklungen in seinem Heimatland und der Welt.
Krzysztof Meyer feiert 2023 seinen 80. Geburtstag. Sein kompositorisches Schaffen umfasst 8 Sinfonien, Konzerte, Kammermusik, darunter 15 Streichquartette, Klaviermusik und szenische Werke. Viele seiner Kompositionen sind durch Texte oder ein außermusikalisches Programm geprägt. Das schließt Werke ein, die als Kommentare zu politischen Ereignissen gehört werden können, wie z.B. die 6. Sinfonie, die „Polnische“ (1982), welche auf die Atmosphäre des Kriegsrechts in Polen reagiert.
Seit den 70er Jahren ist seine Handschrift durch eine breite Skala von traditionellen und zeitgenössischen Mitteln, formaler Meisterschaft und großer Suggestivität des Ausdrucks geprägt, deren Kernelement eine spezifische Methode zur logischen Gestaltung von Zusammenklängen ist. „Meine Musik ist weder tonal noch seriell, noch basiert sie auf anderen zeitgenössischen Techniken, sondern ist eine durch Klänge erzählte ‚Geschichte‘ mit einer eindeutigen Entwicklung, einem Höhepunkt, einem Ende usw.“*
Das Cellokonzert Canti Amadei (1983/84) entstand auf Anregung des Cellisten Ivan Monighetti, dem es auch gewidmet ist. Beide hatten Anfang der 80er Jahre gemeinsam Interpretationen von Mozart verglichen, worauf der Cellist den Vorschlag machte,
Meyer solle doch mal Variationen über Mozart-Themen schreiben. Wenig später erhielt er die Partitur von Canti Amadei, ein virtuoses 5-sätziges Cellokonzert in der Manier Haydns, dessen langsamer 3. Satz von zwei Scherzi eingerahmt wird. Mozart erscheint und verschwindet wie in einem Dialog quasi außerhalb der Zeit. Man hört Zitate, mehr aber noch Allusionen an Symphonien, Kammermusik, Violinsonaten, Konzerte, das Requiem, Don Giovanni … (Crescendo Magazin)
*Krzysztof Meyer in Sikorski Magazin, Februar 2022

Nikolaj A. Roslawez
Nikolaj Roslawez galt als der russische Schönberg. Schon in den 1910er Jahren hatte er unter dem Einfluss von Alexander Skrjabin, des russischen Konstruktivismus, Ferruccio Busonis und des italienischen Futurismus ein „neues festes System der Tonorganisation“ entwickelt. Ausgehend von Tonkomplexen, den sogenannten „Synthetakkorden“, gelangte er zu ähnlichen Verfahren wie Schönberg, um die atonale Harmonik in eine neue konstruktive Ordnung zu bringen.
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Geboren in der russischen Kleinstadt Surasch (heute Oblast Brjansk), studierte er in Kursk und Moskau, erhielt 1921 eine Professur an der Musikakademie, später am Musikinstitut Charkow, dessen Rektor er 1922 wurde.
Roslawez engagierte sich nach der Februar-Revolution zunächst für die neue politische Bewegung, trat jedoch 1921 aus der Kommunistischen Partei aus. Er kämpfte publizistisch für die westliche zeitgenössische Musik und war einer der wichtigsten Wortführer der links-avantgardistischen „Assoziation für zeitgenössische Musik“ (ASM), die seit Mitte der 20er Jahre von der traditionalistischen, die rigiden Prinzipien des „Sozialistischen Realismus“ prägenden und politisch durchsetzenden „Russischen Assoziation Proletarischer Musiker“ (RAPM) gnadenlos bekämpft wurde. Wegen „formalistischer“ und „volksfeindlicher“ Betätigung erhielt er Berufsverbot, zog sich Anfang der 30er Jahre für einige Zeit nach Taschkent zurück und starb 1944 verarmt in Moskau.
Roslawez muss mächtige Feinde gehabt haben, denn sein Werk wurde bis in die 90er Jahre hinein totgeschwiegen. Der KGB durchsuchte nach Roslawez’ Tod die Wohnung, um Manuskripte zu beschlagnahmen, eine Rehabilitierung wurde noch Ende der 60er Jahre abgelehnt, sein Grabmal als das eines „Volksfeindes“ und Sympathisanten des „Weltzionismus“ mehrfach zerstört, die Erben erhielten keinen Zugang zu den Archiven und Forscher wie Marina Lobanowa wurden bei der Rekonstruktion und Herausgabe der Werke behindert und angegriffen. Zur Zeit erscheinen die Hauptwerke von Roslawez, die meisten als Erstveröffentlichung, im Verlag Schott Music International.
Die Partitur der 1934/35 entstandenen Symphonie de chambre für 18 Soloinstrumente wurde wurde von Marina Lobanova nach jahrelanger Recherche im Fundus des Moskauer Glinka-Museums wieder aufgefunden, rekonstruiert und 2005 bei Schott Music International herausgegeben. Die viersätzige Sinfonie kann als einer der Höhepunkte in Roslawez’ Schaffen der 30er Jahre bezeichnet werden. „Mit ihrer harmonischen Komplexität und dem raffinierten Gewebe demonstriert sie die Erfindungsgabe des Komponisten sowie die Produktivität seines ‚neuen Systems der
Tonorganisation‘. Originelle Tonkomplexe sind mit traditionellen Elementen bereichert; der Satz ist äußerst transparent und streng kontrapunktisch ausgearbeitet.“ (Marina Lobanova)*
*Wikipedia
PROGRAMM
Miloslav KabeláčModrého nebe Blauer Himmel op. 19a
Suite für Kinderchor und kleines Orchester 1952
Hans WinterbergSuite für Streichorchester
Miloslav KabeláčDětské hry Kinderspiele op. 21
für Kinderchor und Orchester
Miloslav KabeláčDětem Den Kindern op.22
Kleine Orchestersuite
Miloslav Kabeláč1. Sinfonie, op. 11
für Streichorchester und Schlagzeug 1935
Jürgen Bruns – Dirigent
Kinderchor der Deutschen Oper Berlin
Choreinstudierung: Christian Lindhorst
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Miloslav Kabeláč
Miloslav Kabeláč (1908-1979)
Als Komponist, Dirigent und Pianist war Miloslav Kabeláč eine der wichtigsten Persönlichkeiten des tschechischen Musiklebens im 20. Jahrhundert. Der gebürtige Prager studierte in seiner Heimatstadt u.a. bei Karel Jirák, Alois Hába und Erwin Schulhoff. Er schrieb 8 Sinfonien, Orchester- und Kammermusik, Klaviermusik, Vokalmusik. Kennern gilt er als bedeutendster tschechischer Sinfoniker nach Martinů und doch ist er bis heute weitgehend unbekannt.
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Erst waren es die Nationalsozialisten, die seine Karriere abbrachen, denn Kabeláč hielt trotz des Drucks der NS-Behörden an der Ehe mit seiner jüdischen Frau, der Pianistin Berta Rix, fest. Das kostete ihn 1941 seine Anstellung beim Rundfunk und brachte ihm das Verbot jeglicher öffentlichen Tätigkeit ein. Unmittelbar nach Kriegsende erhielt er alle seine Ämter zurück und wurde für seine antifaschistische Kantate Weichet nicht! (1939) und andere Kompositionen hoch anerkannt. Aber schon 1948 verschwand er bis nach Stalins Tod 1953 erneut in der Versenkung, wegen seines „unstatthaften Abweichlertums“ von den dogmatischen Normen der stalinistischen Kulturpolitik. In der „Tauwetter“periode kehrten seine Werke, kritisch beäugt von den Dogmatikern, allmählich in die Konzertsäle des In- und Auslandes zurück. 1958-1962 hatte er eine Professur für Komposition am Prager Konservatorium inne. Die 60er Jahre sollten seine produktivsten werden. Er war einer der Initiatoren eines Studios für Elektronische Musik des Rundfunks in Pilsen und leitete die ersten Kurse für konkrete und
elektronische Musik in der Tschechoslowakei. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings brach diese Entwicklung schlagartig ab. Infolge seiner politischen Nonkonformität wurde Kabeláč’s Schaffen bis zu seinem Tod im eigenen Land erneut weitgehend ignoriert und totgeschwiegen. Zu Aufführungen im Ausland durfte er nicht reisen, konspirative private Aufführungen im Inland wurden durch Denunziation unmöglich gemacht.*
In seinen Werken verquickt Kabeláč traditionelle Verfahren und Materialien wie tschechische Volkslieder und für die Nationalgeschichte bedeutsame Choräle der Hussiten und des Mittelalters auf der einen, elektronische Klänge, die herausgehobene Stellung des Schlagwerkes und zeitgenössische Konstruktionsverfahren auf der anderen Seite.
In der Zeit der politischen Repression nach 1948 schrieb Kabeláč eine größere Zahl von Werken für Kinder, zum Teil mit pädagogischen Ambitionen, zum Teil aus Freude am Musizieren, darunter die Chorzyklen Modrého nebe, Dětské hry und die Orchestersuite Dětem. „Für mich ist das Komponieren für Kinder ein Bad in einer kristallklaren Quelle. Es ist eine hohe Schule der Aufrichtigkeit. Die Frage ist, wie man für Kinder schreiben soll, in Konsonanzen, in Dissonanzen, tonal, atonal, einfach, kompliziert?, Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich sicher – aufrichtig.“**
Die 1. Sinfonie entstand 1941 und reagiert auf die Grausamkeiten der Ereignisse während des 2. Weltkrieges. Für Streicher und Schlagzeug komponiert, steht sie in ihrer kompositorischen Meisterschaft ebenbürtig neben den Werken der großen Symphoniker des 20. Jahrhunderts. Die intensive, teils bis an die Schmerzgrenze gehende Ausdruckshaftigkeit der dreisätzigen Komposition findet selten, am ehesten noch im an Naturklänge erinnernden Schluss des langsamen zweiten Satzes, Entspannung und Ruhe.
* Alois Piňos in: Verfemte Musik, Frankfurt am Main 1995
** Miloslav Kabeláč in einem Rundfunkinterview 1979, übermittelt von Elisabeth Hahn bei DLF Kultur 18.01.2023

Hans Winterberg
Hans/Hanuš Winterberg (1901-1991)
Der tschechisch-deutsche Komponist aus einer Prager jüdischen Familie Hans Winterberg gehörte zur deutschsprachigen jüdischen kulturellen Elite in der Tschechoslowakei zwischen den beiden Weltkriegen, etwa gleich alt wie Hans Krása, Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Erwin Schulhoff und der einzige von ihnen, der die Deportation nach Theresienstadt überlebte, weil er erst später, nach der erzwungenen Scheidung von seiner deutschen Frau, deportiert wurde. Er studierte an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst bei Fidelio F. Finke, Alexander Zemlinsky und am (tschechischen) Staatskonservatorium Prag bei Alois Hába und arbeitete in dieser Zeit als Korrepetitor in Brno und Jablonec n.N.
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Zeitlebens haderte er mit seiner Nationalität und Identität. Nach seiner Befreiung lebte er (mit tschechischer Staatsbürgerschaft) in Prag, von wo aus er 1947 nach Bayern emigrierte. Er arbeitete als Musikpädagoge am Richard-Strauss Konservatorium und für den Bayerischen Rundfunk.
Winterberg komponierte hauptsächlich Instrumentalmusik, darunter 2 Sinfonien. Sein Stil zeigt ihn der tschechischen Tradition eng verbunden. Er verschmilzt die Polyrhythmen der böhmisch-mährischen Musik mit Anregungen aus der 2. Wiener Schule und westlichen zeitgenössischen Strömungen wie Polytonalität und Impressionismus. Einige Werke wurden zu seinen Lebzeiten im Rundfunk gespielt und aufgenommen. Die Noten wurden aber nicht ediert, weil der Adoptivsohn des Komponisten das Sudetendeutsche Musikinstitut in einem Knebelvertrag verpflichtete, den gesamten Nachlass bis 2030 unter Verschluss zu halten und auch danach jeden Hinweis auf die jüdischen Wurzeln Winterbergs zu unterbinden. Erst nach Anfechtung dieses Vertrages durch den Enkel konnte der Verlag Boosey & Hawkes 2021 mit der Herausgabe der Werke beginnen. *
Die Suite für Streichorchester entstand 1950. Sie wurde im Februar 1952 in einem Studentenkonzert der Münchner Philharmoniker von Winterbergs Prager Studienfreund Fritz Rieger uraufgeführt, der am gleich Tag zum Generalmusikdirektor ernannt worden war. Das von weiten Melosbögen und interessanter Pizzicato-Rhythmik geprägte Werk lässt die drei Sätze als einheitliches Ganzes erscheinen.
* Michael Haas „In the Labyrith of Identities. Rediscovering Hans/Hanuš Winterberg“ in: www.boosey.com
LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR V
Miloslav Kabeláč: Modrého nebe Blauer Himmel op. 19a
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR V
Hans Winterberg: Suite für Streichorchester
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR V
Miloslav Kabeláč: Dětské hry Kinderspiele op. 21
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR V
Miloslav Kabeláč: Dětem Den Kindern op.22
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR V
Miloslav Kabeláč: 1. Sinfonie, op. 11
Jürgen Bruns, Dirigent
PROGRAMM
Tadeusz KassernKonzert für Streichorchester
Rudolf Wagner-RegenyMythologische Figurinen
Kurt SchwaenKonzert für Violine und Orchester 1979
Yevhen StankovychSinfonie Larga für 15 Streicher
Victor Bruns4. Sinfonie Konzertante für Bläserquintett , Schlagzeug und Streicher
Philipp Bohnen – Violine
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Tadeusz Kassern
Tadeusz Zygfryd Kassern (1904-1957)
Geboren 1904 im damals zur k.u.k. Monarchie gehörenden Lemberg (heute Lwiw, Ukraine), studierte der zum jüdisch-polnischen Bevölkerungsteil der Stadt gehörige Tadeusz Kassern am Konservatorium der Polnischen Musikgesellschaft in Lemberg Klavier und Komposition. Später wechselte er ans Poznańer Konservatorium und absolvierte 1929 an der dortigen Universität ein Jurastudium. Im Alter von 24 Jahren war er 2. Preisträger des Wettbewerbs der Pariser Association des Jeunes Musiciens, was ihm den Ruf eines der wichtigsten Protagonisten der Neuen Musik in Polen und europaweit Aufführungen einbrachte. 1930 lebte er in Paris und knüpfte Kontakte zur dortigen Gesellschaft junger polnischer Musiker. Bis 1939 war er Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Polen.
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Ab August 1939 wurde Kassern wegen seiner jüdischen Abstammung von der Gestapo gesucht und es begann eine dramatische Odyssee. Er tauchte unter. Über Lwów gelangte er 1940 nach Kraków, wo er eine Zeit lang mit falscher Identität in einer Buchhandlung arbeitete. Dann versteckte er sich in Warschau mit gefälschten Papieren unter dem Namen Teodor Sroczyński. Nach dem Warschauer Aufstand gelangte er nach Zakopane, von dort im Frühjahr 1945 zurück nach Poznań.
1945 ging er als Kulturattaché des polnischen Konsulats nach New York, wo er 1947 zum Konsul ernannt wurde. Im selben Jahr übernahm er die Stelle des polnischen Gesandten für kulturelle Angelegenheiten bei der UNO. Als erster prominenter polnischer Musiker sagte er sich 1948 vom stalinistisch diktierten Polen los und entschied sich für das dauerhafte Exil in den USA. Seine Auswanderung hatte seine vollständige Ächtung in Polen zur Folge: Kompositionsaufträge wurden zurückgezogen, die Veröffentlichung seiner Werke eingestellt, Aufführungen seiner Musik untersagt und Kassern schließlich aus dem Polnischen Komponistenverband ausgeschlossen.
Während der nächsten fünf Jahre durchlebte Kassern in der Hochphase der McCarthy-Ära in den USA die demütigenden Auswirkungen des Kalten Krieges, die ihn bis zum Freitodversuch trieben. Mehrere Ersuche um die Anerkennung des Einwanderungsstatus als notwendige Vorstufe zur Einbürgerung wurden von höchster Stelle abgelehnt – den amerikanischen Einwanderungsbehörden war man selbst als antikommunistischer politischer Flüchtling suspekt. Kassern lehrte in diesen Jahren als Dozent an der New School for Social Research, an der Third Street Music School sowie an der Dalcroze School of Music. 1957 erlag er in New York einem Krebsleiden.
Nach einer ersten, stark von Szymanowski und dem französischen Impressionismus beeinflussten Periode entwickelte Kassern einen eher dem Neoklassizismus verpflichteten Stil, in den er folkloristische und archaisierende Elemente integrierte. Als ein Hauptwerk dieser Phase gilt das Konzert für Streichorchester, 1943 unter den furchtbarsten Lebensumständen entstanden, in einer Zeit der ständigen Angst vor der Entdeckung durch die Nazis. 1948 wurde das Werk in Berlin von den Berliner Philharmonikern als Meisterwerk eines zeitgenössischen polnischen Komponisten zum ersten Mal aufgeführt.

Rudolf Wagner-Regeny
Rudolf Wagner-Régeny (1903-1969)
Wagner-Régeny wurde als Kind von der multinationalen Musik seiner siebenbürgischen Heimatstadt Szaszregen (heute Reghin/Rumänien) geprägt. Er gelangte durch die Kontakte seines geschäftsreisenden Vaters zum Studium nach Leipzig und Berlin. Berlin wurde seine Wahlheimat. Dort wirkte er u.a. als Ballettrepetitor und Chorleiter an der Volksoper, begleitete die Kammertanzbühne Rudolf von Labans als Pianist, Komponist und Kapellmeister auf ihren Tourneen und feierte mit 6 Kurzopern erste Erfolge auf seinem wichtigsten Schaffensgebiet, dem Musiktheater.
Er blieb auch nach 1933 in Berlin, obwohl seine Frau Halbjüdin war, weil er die gerade begonnene Zusammenarbeit mit Caspar Neher nicht aufgeben wollte.
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Insgesamt
entstanden in der Zusammenarbeit mit Neher vier Opern , von denen drei während des „3. Reiches“ erfolgreich aufgeführt wurden, u.a. durch Herbert von Karajan. Die Opern lassen sich, zwischen den Zeilen gelesen, wie Zeugnisse vorsichtigen geistigen Widerstands verstehen (Max Becker).*
1943 wurde Wagner-Régeny zur Wehrmacht eingezogen. Die Kriegserlebnisse sowie Krankheit und Tod seiner Frau führten zu einer tiefen Depression.
Die sowjetische Militäradministration setzte ihn als Professor und Rektor der Rostocker Musikhochschule ein. 1950 folgte er einem Ruf an die Ost-Berliner Musikhochschule. Er wurde Mitglied der Deutschen Akademie der Künste. (Ost) und Leiter einer Meisterklasse für Komposition. Als Komponist und Lehrer beugte er sich den Forderungen nach Ächtung „spätbürgerlicher Formalisten“ nicht. Er unterrichtete Zwölftonmusik, Schönberg, Webern und setzte auch in den frühen 50er Jahren in seinen Werken die Zwölftonmethode und variable Metren ein. Als gefragter Mentor förderte er zahlreiche Meisterschüler, die die spätere „Avantgarde“ in der DDR bildeten, u.a. Rainer Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Manfred Schubert, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus.
Wagner- Régeny war kein Widerstandskämpfer, weder nach 1933, noch nach 1945, aber er ließ sich nicht verbiegen und blieb seinem Credo treu, Kunst als Vermittlungsschicht ethischer Bildung zu praktizieren. Seine kompositorische Grundhaltung beschreibt Max Becker als „lyrischen Klassizismus“, Verhaltenheit, Nüchternheit, Klarheit, „klingende, gleichsam epische Distanz“.*
1951 komponierte Wagner- Régeny drei Mythologische Figurinen für großes Orchester, in Zwölftontechnik und (frei behandelten) variablen Metren geschrieben und eigentlich als Ballett konzipiert. „Die drei Satzüberschriften ‚Diana‘, ‚Ceres‘ und ‚Amphitrite“ - antike Göttinnen der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus und des Meeres - bezeugen Im Kontext eines modernen Materialstandes eine Neigung zum Klassizismus. Nicht gegenwärtig verankert, sondern mythologisch bezogen, wollen sie weder bis zu letzter szenischer Konkretheit sich verdichten, noch auf die symbolischen Bezüge völlig verzichten. Im Konzert dominiert ihre theatralische Gestik, auf der Bühne der Eigenwert der Musik. Treffend bezeichnet, bleiben sie ein ästhetisches Zwischenphänomen: Figurinen “ (Max Becker)*
*Max Becker in: Komponisten der Gegenwart

Kurt Schwaen
Kurt Schwaen (1909-2007)
In der DDR kannte ihn jedes Kind. Kurt Schwaens Kinderlieder waren Allgemeingut (Wer möchte nicht im Leben bleiben), seine Kantate König Midas stand im Lehrplan der Schulen. Musikschüler, Volks- und Laienmusiker konnten für fast jedes Instrument, jede Besetzung und jeden Schwierigkeitsgrad Musik von Schwaen finden (oder bei ihm bestellen). Dass Schwaen auch Opern für Erwachsene, Bühnenmusiken, Orchestermusik, Konzerte, Kammermusik, Klavierstücke und Klavierlieder von höchster Subtilität komponiert hat, wurde schon vor der politischen Wende 1989 zu wenig wahrgenommen.
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Seit der Wende sind Aufführungen von Schwaens Musik ausgesprochen rar gesät.
Als Komponist war Kurt Schwaen weitgehend Autodidakt. Der 1909 in Kattowitz (heute Katowice) geborene Kaufmannssohn erhielt in seiner Heimatstadt Musikunterricht bei einem Schüler Max Regers, studierte Musikwissenschaft u.a. an der Berliner Universität und besuchte Musikseminare bei Hanns Eisler in der MASCH (Marxistische Arbeiterschule).
1935 wurde er wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt und 1943 als „wehrunwürdig“ in die „Strafdivision 999“ einberufen. In den Jahren dazwischen arbeitete er als Korrepetitor für künstlerischen Ausdruckstanz, u.a. für Mary Wigman und die später von den Nazis ermordete Oda Schottmüller.
Nach 1945 half Schwaen im Auftrag des Magistrats beim Aufbau der Volksmusikschulen in Berlin mit, später arbeitete er als Musikreferent der Deutschen Volksbühne. Seit 1953 freischaffender Komponist, übernahm er verantwortliche Aufgaben als Sekretär im Komponistenverband und in der Sektion Musik der Akademie der Künste. Er schuf in Werkstätten und Konzerten Freiräume für die jüngere Komponistengeneration und gründete zusammen mit seiner späteren Frau Ina Iske in Leipzig die AG Kindermusiktheater, die er von 1973-1983 leitete. Prägend war die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht (Bühnenmusik, Schuloper Die Horatier und die Kuriatier). Ein lebenslange Freundschaft verband ihn mit Günter Kunert. Ihre gemeinsame Funk- und Fernsehoper Fetzers Flucht (1959, Thema Republikflucht mit Todesfolge) geriet 1962 unter das Verdikt des Formalismus. Trotzdem ist er nie irgendwelchen aufoktroyierten Normen und Regeln gefolgt, sondern immer – nicht selten zwischen Sarkasmus und Resignation – seinen Überzeugungen treu geblieben und seinen eigenen geraden, integren Weg gegangen. Kurt Schwaen wurde 98 Jahre alt, sein Werkverzeichnis umfasst über 600 Kompositionen. Der Schwaen’sche Aphorismus „Was du nicht mit drei Tönen sagst, sagst du auch nicht mit hundert“ weist mitten in Schwaens kompositorisches Denken: keine Schnörkel, kurze, knappe, gehaltvoll präzise musikalische Formulierungen, Frische und oft ein ironisch-intelligenter geistreicher Ton (Axel Bertram)*. Geprägt von der Ästhetik Brechts und Eislers, war ihm die Musik von Bartók, Janáček wie auch Bach, Mozart, Strawinsky besonders nahe. Den großen klassischen Gattungen wandte sich Schwaen relativ spät zu. Einer der Höhepunkte ist das 1979 komponierte Konzert für Violine und Orchester, in klassischer Dreisätzigkeit geschrieben, basiert es auf einem neuntönigen Thema. Kunstvoll gearbeitet, oft bewegt motorisch, immer wieder überraschende Wendungen hervorbringend fordert es Musiker und Publikum zu wacher Aufmerksamkeit heraus und dem Solisten, vor allem auch in der großen Kadenz in der Mitte des 1. Satzes, ein hohes Maß an Virtuosität ab.
*www.kurtschwaen.de

Yevhen Stankovych
Jewhen Fedorowytsch Stankowytsch (*1942) gilt als musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte.* Als Sohn einer Lehrerfamilie in Swaljawa im westukrainischen Transkarpatien geboren, studierte er in Lwiw und Kiew. Er arbeitete als Verlagsredakteur und ist seit 1976 freischaffend tätig. Seit 1988 lehrt er als Kompositionsprofessor an der Nationalen Musikakademie der Ukraine in Kiew.
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In den Jahren des Umbruchs war er Vorsitzender des Ukrainischen Komponistenverbandes. Sein Werkverzeichnis umfasst 6 Sinfonien, 12 Kammersinfonien, 6 Ballette, 3 Opern uvm. Als junger Komponist begeisterte er sich für die Avantgarde, versteht sich aber seit Ende der 70er Jahre eher als Traditionalist in dem Sinne, dass er der Musik eine andere Funktion zuordnet. „Ich bin tief davon überzeugt, daß jeder Komponist auf der Suche nach einer originellen musikalischen Sprache, nach neuen Formen und Klangmöglichkeiten weitergehen muß. Aber für mich ist die Musik in erster Linie ein Produkt des Menschen f ü r den Menschen“.** Unbedingtes Ausdrucksbedürfnis kennzeichnet die eher romantisch-epische Schreibweise des Komponisten, die in den folkloristischen Traditionen seiner Heimat tief verwurzelt ist. So entstand ein Personalstil, der in der Spannweite von den ältesten Schichten der ukrainischen Folklore bis zu neuen Techniken ein unverkennbares Profil erhält. Der heute 80-Jährige nimmt regen Anteil am Leben seines Landes. Immer wieder wendet er sich Sujets zu, die mit den oft schmerzhaften historischen und aktuellen Ereignissen zu tun haben, wie Babyn Jar, Holodomor, Tschernobyl, die aktuelle Erschütterung des Landes durch den Krieg.
Auch das war nicht immer erwünscht. So wurde seine erste, in ukrainischer Sprache geschriebene, Ballett-Oper Wenn der Farn blüht 1979 unmittelbar vor der Uraufführung verboten, weil das Sujet kosakische Sitten der Saporoger Kosaken, d.h. „die ältesten Traditionen der ukrainischen mythologischen Imagination in Wort und Musik exponierte“ und damit für die Wächter des Sozialistischen Realismus im Widerspruch zur „Kampagne gegen Nationalismus in der Kunst“ stand. Auch die Dramaturgie und der Umgang mit der ukrainischen Folklore – Stankowytsch verband alte Volksweisen mit Elementen aus der Rockmusik, Aleatorik und Clustern – entsprachen nicht der Norm.***
Erst 2011 fand die erste konzertante Aufführung der Oper in Kiew statt, die szenische Uraufführung erfolgte in einer stark bearbeiteten Fassung 2017 in Lwiw.
Die einsätzige Sinfonie Larga für 15 Streicher entstand 1973. Ein expressives Largo in Sonatenform, das ebenbürtig neben den großen Largo- und Adagiosätzen bei Gustav Mahler, Dmitri Schostakowitsch oder Arthur Honegger steht. Es überwiegen die langsamen Teile, in denen Stankowytsch den 15 Streichern einen unglaublichen Reichtum an Klangmöglichkeiten und ausdrucksvollen melodischen Linien abgewinnt. Schnellere, unruhige Passagen unterbrechen und markieren die einzelnen Formteile.
*Florian Schuck „Musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte – Jewhen Stankowytsch zum 80. Geburtstag
** Hannelore Gerlach Fünfzig sowjetische Komponisten, Leipzig/Dresden 1984
*** Wikipedia „Wenn der Farn Blüht“

Victor Bruns
Victor Bruns (1904-1996)
Die fürchterliche Willkür unter Stalin verschonte auch die in Leningrad (heute St. Petersburg) lebende deutsche Familie Bruns nicht. Verbannung, Lagerhaft und Tod trafen Verwandte. Zu den üblichen konstruierten Vorwürfen - konterrevolutionäre Tätigkeit, trotzkistische Verschwörung - kam bei den in der Sowjetunion lebenden
Deutschen noch der Spionageverdacht hinzu. Victor Bruns und seine beiden Brüder, monatelang inhaftiert, kamen mit der Ausweisung aus der Sowjetunion 1938 vergleichsweise glimpflich davon. 1904 im Sommerhaus der Eltern im finnischen Ollila geboren, studierte Viktor Bruns am Leningrader Konservatorium Fagott und Komposition (bei Wladimir Schtscherbatschow). Bis zu seiner Ausweisung aus der Sowjetunion als „Reichsdeutscher Bürger“ war er Fagottist an der Leningrader Oper, von 1940 an in gleicher Stellung an der Berliner Volksoper. Noch in der Endphase des Krieges zur Wehrmacht einberufen, geriet er in sowjetische Gefangenschaft, doch gelang es ihm 1946, nach Berlin zurückzukehren.
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Dort betrieb er von 1946 bis 1949 Kompositionsstudien bei Boris Blacher und war von 1946 bis 1969 Fagottist der Staatskapelle Berlin, die viele seiner Werke uraufführte Von dieser Zeit an entstanden die meisten seiner 99 Kompositionen, mehr als 20 Konzerte, eine große Anzahl von Kammermusiken für Bläser und Streicher, 6 Sinfonien sowie Ballettmusik, darunter die äußerst erfolgreiche Neue Odyssee (1957).
Victor Bruns’ Kompositionen in der Nachfolge von Strawinsky und Prokofjew sind voller musikantischer Lebensfreude und unerwarteter Überraschungen. Ein Avantgardist wollte er nicht sein, sondern musikantische Freude mit seiner Musik verbreiten. Bruns war weder Mitglied des Komponistenverbandes der DDR noch politisch engagiert. Seine Stücke wurden in der DDR trotzdem häufig aufgeführt, da sie unter seinen Bläserkollegen und Musikerfreunden äußerst beliebt waren und oft in deren Auftrag entstanden, musikalisch und technisch anspruchsvoll, bar jeder politischen Aufgeblasenheit. Unter Fagottisten der ganzen Welt ist Victor Bruns noch immer bekannt. Sie spielen seine Etüden, Wettbewerbsstücke, Solo- und Kammermusik. Die größeren Werke allerdings, seine Sinfonien, Ballette und Konzerte harren der Entdeckung bzw. Wiederentdeckung, der Herausgabe und der Wiedergabe in Konzerten und in Aufnahmen, so auch die 4. Sinfonie.
In der Tradition der klassischen Sinfonia concertante steht die 4. Sinfonie op. 47 – Konzertante . Sie entstand 1970 für Bläserquintett, Pauken, Schlagzeug und Streicher und repräsentiert in ihrem konzertant-virtuosen Charakter einen der Grundzüge von Bruns’ Musik - eine auf intimer Kenntnis der Musizierlaune seiner Kollegen basierende musikantisch-freudvolle, „gut zu hörende, kompositorisch äußerst hochwertige und einnehmende Musik“*.
*www.victorbruns.de
LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VI
Tadeusz Kassern: Konzert für Streichorchester
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VI
Rudolf Wagner-Regeny: Mythologische Figurinen
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VI
Kurt Schwaen: Konzert für Violine und Orchester
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VI
Yevhen Stankovych: Sinfonie Larga für 15 Streicher
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VI
Victor Bruns: 4. Sinfonie Konzertante
Jürgen Bruns, Dirigent
PROGRAMM
Mieczyslaw WeinbergSinfonie Nr. 10 für Streichorchester op. 98
Romualds KalsonsKlarinettenkonzert
Dimitri Cuclin3. Streichquartett in der Fassung für Streichorchester
Alexander Bader – Klarinette
Jürgen Bruns – Dirigent
Kammersymphonie Berlin
BIOGRAFIEN

Mieczyslaw Weinberg
Mieczysław Weinberg (1919-1996)
Die Biografie des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der den größten Teil seines Lebens in der Sowjetunion zubrachte, spiegelt exemplarisch die Verwerfungen der (ost)europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Die Musikerfamilie war 1903 aus Kishinjow/Chişinău (Moldawien) vor antisemitischen Pogromen nach Warschau geflohen, wo Weinberg 1919 geboren wurde und seine Ausbildung am Konservatorium begann. 1939, nach dem Überfall Hitlers auf Polen, floh er nach Minsk. Seine Familie blieb zurück und wurde von den Nazis vollständig ausgelöscht. In Minsk durfte der Flüchtling Komposition studieren. Wenige Tage nach dem Examen 1941 überfiel Hitler die Sowjetunion und Weinberg musste erneut fliehen.
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Er kam nach Taschkent, arbeitete als Korrepetitor an der Oper und heiratete dort die Tochter des großen Mannes des jüdischen Theaters Solomon Michoels, der 1948 von Stalins Geheimpolizei bei einem inszenierten Autounfall ermordet wurde. 1942 schickte Weinberg seine 1. Sinfonie an Schostakowitsch, der ihn daraufhin nach Moskau einlud, wo Weinberg von 1943 bis zu seinem Tode als freischaffender Komponist lebte. Schostakowitsch wurde sein Vorbild, Mentor, Freund und Beschützer. Beide verband eine lebenslange Freundschaft und ein intensiver künstlerischer Austausch. 1948 erhielt Weinberg als einer von den „kleinen Schostakowitschen“ eine Rüge wegen Formalismus. Als Weinberg 1953 wegen des Vorwurfes der „Propaganda für die Errichtung einer jüdischen Republik auf der Krim“ verhaftet wurde, setzte sich Schostakowitsch für seine Freilassung ein, die nach dem Tod Stalins erfolgte.
Mieczysław Weinberg komponierte 6 Opern, 22 Sinfonien, 17 Streichquartette, Kammersinfonien, Filmmusik u.v.m. Große internationale Beachtung erlangte er mit der 42 Jahre verspäteten szenischen Erstaufführung seines Hauptwerks, der Oper Die Passagierin (1968), in Bregenz 2010. Weinbergs Werke sind meist großformatig angelegt, in einem Zusammenspiel von traditionellen und zeitgenössischen Formen. In bis zur Atonalität erweiterter Tonalität, inspiriert von Einflüssen jüdischer, polnischer und moldawischer Folklore entwickelte Weinberg eine von einem besonderen Sinn für Klangfarbe, Harmonie und Form geprägte individuelle Sprache.
Als Meisterwerk der postmodernen Orchestermusik gilt seine Sinfonie Nr. 10 op. 98 (1968). Rudolf Barschai und dem Moskauer Kammerorchester mit seinen hervorragenden Solisten gewidmet, ist das fünfsätzige Werk als konzertante Sinfonie für 17 Soloinstrumente konzipiert; Weinbergs bis dahin experimentellstes, komplexestes und ein ungemein packendes Werk. Die Satzbezeichnungen Concerto grosso – Pastorale – Canzone – Burlesque – Inversion verweisen auf barocke konzertante Formen. Flankiert von zwei mächtigen Grave-Sätzen, entwickeln sich unerwartete Klangkombinationen, polyphonische Überlagerungen, mächtige Forte-Explosionen, Glissando Orgien und Bordun-Bässe unter frei phrasierten Kantilenen und verdrehten Rhythmen polnischen Stils. Die expressiv-lyrische Grundstimmung wird nur in der Burleske aufgebrochen. Kadenzen in jedem Satz fordern die solistischen Qualitäten der Musiker heraus. Sie werden gespiegelt im alle polyphonen Künste aufbietenden Finale (Inversion) wieder aufgegriffen.*
* s. Gerlach Fünfzig sowjetische Komponisten

Romualds Kalsons
Romualds Kalsons (*1936) „…gehört zu dem Kreis baltischer Komponisten, die sich der erwünschten ohrenfälligen Bejahung des sowjetischen Sozialismus enthielten und statt dessen versuchten, die Widerstandskraft ihres kleinen Volkes zu stärken.“* Er lebt und arbeitet bis heute in seiner Geburtsstadt Riga. Hier durchlief er seine musikalische Ausbildung von Musikgrundschule, Musikfachschule bis zur Lettischen Musikakademie, wo er beim bedeutendsten Vertreter der Rigaer Schule, Ādolfs Skulte, Komposition und außerdem Klavier und Dirigieren studierte. Er arbeitete als Komponist, Dirigent, Pianist und Tontechniker. Von 1973 bis 2009 unterrichtete er an der Lettischen Musikakademie, wo er 1987 zum Professor berufen wurde. 1989 bis 2002 war er Vorsitzender des Lettischen Komponistenverbandes.
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Bis in die 70er Jahre überwog der vokale Anteil das Schaffen Kalsons, basierend auf der bodenständigen lettischen Liedtradition und vor allem der heimischen Dichtkunst, mit besonderer Vorliebe für Ojārs Vācietis. Bis heute gilt sein Interesse den Sprachklängen und immer mehr den mehrschichtigen Sinnbedeutungen der Gedichte, der Kunst des „uneigentlichen Sprechens“.* „Mein Eintreten für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit bringt mich oft in Konfliktsituationen. Unter dem Druck der Verhältnisse entstehen in meinem Werk Ironie, Sarkasmus, Skepsis – aber auch Humor als Schutzmechanismus, ist doch die Menschenseele leicht verwundbar. Diese Stilzüge haben sich nicht nur in meine Vokalmusik, sondern auch in meine instrumentale Musik eingeschlichen.“* Kalsons’ Tonsprache reicht dabei von barocken und klassischen Formen über neoromantische Haltungen, melodischen Einfallsreichtum, vitale Rhythmik bis hin zu neuen Techniken. Selbstzweck ist keines der Mittel. Seine erklärte Absicht ist es, sich den Hörern verständlich zu machen. „Einige Musikwissenschaftler sprechen von einer Verstärkung romantischer Tendenzen in der lettischen Musik der letzten Jahre. … Meiner Meinung nach wird dieser Prozeß durchaus nicht durch die Mode bedingt, sondern durch das innere Bedürfnis und die Fähigkeit des Künstlers, auf aktuelle Probleme der Zeit zu reagieren.“**
Neben dem Violinkonzert (1975/78) gehört das Konzert für Klarinette und Kammerorchester (1982) zu den meist gespielten Werken Romualds Kalsons. Im Zentrum des Konzerts steht der langsame Satz (Moderato), der von zwei bewegten, vorwärts drängenden Sätzen umschlossen wird. Die Klarinette bestimmt ihn mit langen, von tiefer Traurigkeit geprägten Kantilenen. Eine Aufhellung gelingt nur vorübergehend, am Ende des Satzes scheint alles auseinanderzubrechen. Ironie, Sarkasmus und Groteske prägen den Finalsatz. Kalsons parodiert hier den in Lettland berühmten alten Walzer O Isabella und bekennt, dass ihn diese Folge von Tanzepisoden, ähnlich wie im Violinkonzert an den Triumphmarsch des Teufels in Strawinskys Histoire du Soldat erinnert.*
*Lutz Lesle in: Komponisten der Gegenwart
** Gerlach Fünfzig sowjetische Komponisten S. 227

Dimitri Cuclin
Dimitrie Cuclin (1885-1978) gehörte zu den wenigen rumänischen Komponisten, die trotz der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen unter unter Nicolae Ceauşescu im Lande blieben. Der Sohn eines Musiklehrers und einer Bäuerin stammte aus Galaţi, studierte am Konservatorium Bukarest bei Alfonso Castaldi und in Paris bei Charles-Marie Widor und an der Scola Cantorum bei Vincent d’Indy. Nach seiner Rückkehr nach Rumänien 1918 gab er Violinunterricht und spielte im Orchester bei Georges Enescu. Nach Kriegsende 1919 wurde er auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Musikästhetik am Bukarester Konservatorium berufen, ab 1922 lehrte er in New York am Brooklyn Conservatoy, ab 1930 bis zu seiner Emeritierung 1948 wieder am Bukarester Konservatorium, dessen Direktor er während des Krieges kurzzeitig war. Durch seine philosophischen und musikästhetischen Schriften in der Tradition des Idealismus geriet er jedoch in Konflikt mit dem kommunistischen Regime.
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Sein Fall war tief: Ausgelöst von seiner Teilnahme an einer musikalischen Soiree des Goethe Instituts in Bukarest, wurde er als „Idealist“ und „Reaktionär“ 1950, im Alter von 65 Jahren, zu zwei Jahren Zwangsarbeit am Donau-Schwarzmeer-Kanal verurteilt. Nach dieser schweren Zeit komponierte er den größten Teil seines sinfonischen Oeuvres. Eine Berufung in die rumänische Akademie wurde durch Vertreter des Proletkults verhindert. Er starb im Alter von 92 Jahren in Bukarest.
Cuclin komponierte 6 Opern, 20 Sinfonien, Vokalsinfonik, Orchester- Chor- Kammermusik u.v.m. Er orientierte sich an der französischen Kultur, insbesondere bewunderte er den französischen Impressionismus. Musikalisch und ästhetisch stand er George Enescu nahe. Seine monumentalen Sinfonien stehen im Zentrum seines Schaffens. In ihrer Ausdehnung nehmen sie oft den Zeitraum eines ganzen Konzertes ein. Die längste (Nr. 12) dauert sechs Stunden. Cuclin schrieb und übersetzte außerdem Gedichte, Libretti und Theaterstücke. Seine zahlreichen philosophischen Schriften kreisen um Themen der Metaphysik.
Die Streichquartette Cuclins entstanden vor dem ersten Weltkrieg (Nr. 1, 1914) und wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, Nr. 2 1948, das dritte und letzte wurde 1950 vollendet und 1976 im Bukarester Musikverlag herausgebracht. Das kontrastreiche Werk scheint zwei Welten gegeneinander zu setzen und nicht zusammen zu bringen. Die erste wird repräsentiert von dem einleitenden Adagio. Das Thema erinnert an das einer barocken Passacaglia und wird maßvoll in einem Fugato eingeführt. Aber schon bald bricht es aus und verwandelt sich im nachfolgenden Allegro in eine vorwärts stürmende Bewegung, Zweimal, am Ende dieses Satzes und im dritten, dem Scherzo-Satz erscheint die Vortragsbezeichnung violentissimamente (äußerst gewaltsam, brutal). Die ruhigeren Teile werden von den heftigen förmlich an den Rand gedrückt, das Trio im Scherzo Satz scheint eine verlorene Insel zu sein und selbst der vierte langsame Adagiosatz hat ein aufbrausendes Allegretto-Trio, das nur noch eine kurze Wiederholung des Adagios zulässt. Das Werk erklingt in einer Fassung für Streichorchester.
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LIVEMITSCHNITTE
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VII
Mieczyslaw Weinberg: Sinfonie Nr. 10 für Streichorchester op. 98
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VII
Romualds Kalsons: Klarinettenkonzert
Jürgen Bruns, Dirigent
Philharmonie Berlin, Kammermusiksaal
UNTERM RADAR VII
Dimitri Cuclin: 3. Streichquartett in der Fassung für Streichorchester
Jürgen Bruns, Dirigent